- Welches Wissen und welche Vorstellungen von und über die DDR werden in den kinder- und jugendliterarischen Texten vermittelt?
In der klassischen Definition des Comics von Will Eisner und Scott McCloud (S. 312 bei Carolin Führer – Zeichensprache in Comics und Graphic Novels zur DDR) ist der Comic sequentielle Kunst, die qua Sequenz zeitliche Abläufe darstellt. Unter der Sequenz soll man in diesem Sinne, die auf einander folgende Ereignisse in bestimmter Zeitperiode, verstehen.
Ein Zeichen ist von grundlegender Bedeutung für die Comic-Kunst, da mit einem Zeichen (das meint Sprache ebenso wie Bilder, aber auch Formeln, Gesten etc.) ein Gefühl oder eine Empfindung hervorgerufen werden kann. Dabei werden nicht nur Emotionen, sondern auch Wissen und Vorstellungen über die DDR transportiert.
In der Primärliteratur zu unserem Seminar wird von den Menschen, Gegenständen, Sinneswahrnehmungen und Ereignissen erzählt, die zu den kollektiven und individuellen Erinnerungen verschiedener Generationen in der ehemaligen DDR gehören (S. 312). Dabei ist es sehr interessant, dass die Autoren von diesen Werken, wie z.B.: Susanne Buddenberg und Thomas Henseler, Simon Schwarz, PM Hoffmann und Bernd Lindner selbst ihre Kindheit teilweise in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland verbracht haben. Gemeinsames charakteristisches Merkmal dieser Generation von Autoren ist das Aufwachsen in zwei gegensätzlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systemen sowie die Umbruchserfahrung von 1989 (S. 312).
Wenn wir uns die Primärtexte genauer angucken, so dient z.B. Schwartz’ Graphic Novel „drüben!“ als (auto)biographische Erzählung mit ihrer besonderen Erzählstrategie dabei weniger einer individuellen Selbstvergewisserung als vielmehr der Verständigung zw. (Familien-) Generationen, Lebensentwürfen und unterschiedlichen Erinnerungsparadigmen zur Zeitgeschichte. Mit „drüben!“ kann daher auf inhaltlicher Ebene v.a. bewusst gemacht werden, welche Träume und Hoffnungen die Bewohner des SED-Staates mit ihrem Land verbanden und welchen Preis sie dafür unter Umständen zu zahlen bereit sein mussten. Schwartz’ Erzählung beruht nicht nur auf den Erinnerungen seiner eigenen Kindheit, sondern bebildert auch die Erinnerungen seiner Eltern und Großeltern (S. 313-314).
Comics und Graphic Novels wie „Grenzfall“ von Susanne Buddenberg/Thomas Hanseler und „Herbst der Entscheidung“ von PM Hoffmann/Bernd Lindner sind sowohl auf der Plot- als auch auf der Bildebene mit einem stark faktualen Erinnern gekoppelt. Hier wurde auf Authentizität der recherchierten Bilddetails ebenso Wert gelegt wie auf die Einbettung in eine Historische Meistererzählung, daher leitet sich die schulische Legitimation der Lektüre dieser Werke eher für historisches als für literarisches und ästhetisches Lernen ab (S. 315).
- Sehen Sie sich die Paratexte an (Klappentexte, Cover, Widmung, Vorwort, Nachwort, etc.). Spielen diese im Hinblick auf das Seminarthema eine besondere Rolle?
Spricht man über ein Meisterwerk der Literatur, so kommen natürlich auf den ersten Plan die Figur des Autors und der Inhalt des Buches. Aber nicht nur diese Faktoren spielen in der modernen und internetabhängigen Gesellschaft eine Rolle bei der Wahrnehmung eines Buches. Einen wichtigen Einfluss haben hier auch Paratexte. Paratextualität ist ein Typ der Transtextualität und gehört zur Taxonomie intertextueller Beziehungen, die Gérard Genette in „Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe“ (1982) entwirft. Genette meint damit Textteile, die zusammen mit dem Text auftreten (griech.: para = neben), aber nicht eigentlich zum Text gehören. Genette unterscheidet folgende Textsorten: „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten […]“ (Palimpseste, S. 11).
Alle diese Elemente der Paratextualität wirken auf den potenziellen Leser und beeinflussen ihn. Das geschieht schon viel früher, als der Leser mit dem Lesen des Buches startet. Im Hinblick auf das Thema unseres Seminars spielt das eine besondere Rolle. Mithilfe von bestimmten Worten, Bildern, Formeln, Gesten, Zeichen, die für Comics und Graphic Novels wichtig sind, sollen Emotionen und Erinnerungen bei den Lesern geweckt werden. Der potentielle Leser hat immer zwei Möglichkeiten: entweder wird er durch ein unpassender Titel, ein langweiliger Klappentext oder eine falsche Farbwahl bei der Umschlaggestaltung enttäuscht und das führt dazu, dass er dieses Buch nicht wahrnehmen wird, oder er wird durch diese Elemente auf das Buch aufmerksam, indem z.B. der Titel viel Spannung, der Klappentext eine spannend geschriebene Geschichte und die Covergestaltung ein interessantes Thema garantieren. Im Weiteren werden wir uns die Covergestaltung unserer Primärtexte genauer anschauen.
Als ein gemeinsames Merkmal bei der Covergestaltung sieht man in allen unseren Primärtexten junge Generation bzw. junge Menschen oder junge Familien. In Schwartz’ Graphic Novel „drüben!“ ist das eine junge Familie, die mit ihrem Sohn in den Westen flieht. Sofort auf dem Cover wird diese Familie in bunten Farben dargestellt, die Kleidung ist bunt und sogar sieht man verschiedene farbige Graffitis an der Berliner Mauer. Was noch deutlich zu erkennen ist und was die Interpretation hier beeindruckt, dass die Augen der Eltern nach hinten gucken, sogar kann man sagen, ihre Blicke schauen hinter die Mauer in die Vergangenheit. Das Kind im Gegenteil schaut nach vorne, in die Zukunft.
Im „Grenzfall“ von Susanne Buddenberg/Thomas Hanseler und „Herbst der Entscheidung“ von PM Hoffmann/Bernd Lindner kommen die Protagonisten der beiden Werke auf dem Cover vor. Das sing junge Männer, sogar kann man sagen Jugendliche, die für den Frieden und ihre Ideale kämpfen. Das kann man an den Aufnäher, die die beiden an ihren Jacken tragen, erkennen. So sieht man bei Daniel in „Herbst der Entscheidung“ einen Aufnäher zu der Friedensbewegung der DDR „Schwerter zu Pflugscharen“ und „Pazifismus“-Aufnäher. Peter im „Grenzfall“ hat auch einen Aufnäher, der folgende Interpretation hat: „Unser Vorschlag gilt: Wir sind dialogbereit für Frieden und Abrüstung“.
Dabei erkennt man sofort, dass alle diese Texte nicht nur etwas aus der Geschichte dem potenziellen Leser anbieten, sondern auch die spannenden Ereignisse aus dem Leben der Autoren darstellen.
(si)
- Was wird aus dem historischen Material (Mimesis I) ausgewählt, welche Prinzipien waren für die Auswahl leitend, von welchen Modellen bzw. narrativen Schemata wurden sie gesteuert? (Gansel 2010, S. 35)
In dem vom Ricœurs entwickelten Mimesis-Konzept wird das Verhältnis zwischen Literatur und kultureller Wirklichkeit modelliert. Diese beiden Welten sind durch ihre Interdependenz voneinander abhängig. Dabei wird von der Literatur die Erzeugung symbolischer Alternativwelten genutzt, die auf vorherrschenden kulturellen Diskurssystemen und Wissensordnungen beruhen. Das hat zur Folge, das fiktionale Texte an ihren Entstehungskontext gebunden und somit kulturell vorgebildet sind.[2]
Deshalb geht die ostdeutsche Literatur vorrangig spekulativ vor; „sie versucht zu erzählen, wie es gewesen sein könnte. Es ist eine Literatur der Mutmaßungen, der Rekonstruktionen, Projektionen und Inszenierungen.“[3]
(tr)
- Wie sind die Proportionen der literarischen Darstellung geartet? Welche Ereignisse, Denk- und Verhaltensweisen der Figuren werden dargestellt, welche ausgelassen?
- Wie und durch wen erfolgt ihre Bewertung, in welchen Kontext sind sie gestellt und welches Beziehungsgeflecht wird aufgebaut?
Gansel schreibt in seinem Artikel: „über Bewertungsakte werden aus einer Vielzahl möglicher Vergangenheitsreferenzen – Orte, Personen, Ereignisse, Zusammenhänge – jene Elemente ausgewählt, die vor dem Hintergrund gegenwärtiger Interessen und Bedürfnisse als bedeutsam und erinnerungswürdig eingestuft werden.“ Zurzeit wird es aber immer schwieriger diese Interessen und Bedürfnisse von den Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen und sie auch in der KJL darzustellen.[4]
„Das für die Allgemeinliteratur herausgestellte Wechselspiel von Gegenwarts- und Vergangenheitsebene wird in der KJL ausgesprochen und nur selten konsequent umgesetzt. Es finden sich nur in Ausnahmefällen Figuren, die sich auf einer Gegenwartsebene befinden und dann – die möglicherweise durch ein besonderes Ereignis angeregt werden – an Vergangenes erinnern. Dies hängt natürlich mit den potentiellen Lesern, also der „Zielgruppe“ zusammen, der es – eventuell aus kognitiven Gründen – immer noch eher selten zugemutet wird, Texte zu rezipieren, in denen es einen Wechsel zwischen Erinnerndem und Erinnertem gibt.“[5] Daraus resultiert, dass die Texte am meisten narratologisch in der KJL verfasst sind. Spricht man also über Texte, die uns von DDR, Wende oder Nachwende berichten, so kann man feststellen, dass die Figuren, Räume unmittelbar an eine historisch konkrete Zeitebene gebunden sind. Der Erzähler bleibt auch in dieser Ebene. „Man könnte insofern von historischen Romanen Sprechen oder aber von Texten, die der sogenannten zeitgeschichtlichen KJL zuzuordnen sind.“[6]
In unseren Primärtexten erlebt man wahre Geschichten der jungen Autoren, die uns über die DDR, ihr Verschwinden und über das Leben der Menschen vor und nach der Wende. Für die neuen Autoren: „[…] bedeutete das Ende des Real-Sozialismus das Ende ihrer Kindheit oder Jugend. […] Die vertraute Welt existierte nicht mehr, die Alltagsgegenstände, ideologischen Orientierungen, privaten Verhältnisse wurden radikal verändert. Der erfahrene Verlust provozierte Jahre später den Versuch, sich neu an Dinge zu erinnern, die während ihrer Existenz unwichtig waren oder zu denen Distanz existierte.“[7]
So sind auch die Comics und Graphic Novels, die zu unserem Hauptthema des Blogs geworden sind, entstanden. Die bieten den Kindern und Jugendlichen ein authentisches und facettenreiches Bild von der DDR. Sowie auf der Textebene, als auch auf der Bildebene stellen sie ganz verschiedene Ereignisse, Denk- und Verhaltensweisen der Figuren dar. Das kann man in den Rezensionen zu den Primärtexten und bei den wiederkehrenden Stereotypen nachvollziehen.
(si)
[1] Genette, G. (1996): Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. S.11.
[2] Neumann, B. (2003): Literatur – Erinnerung – Identität. S. 215.
[3] Hensel, J. (2004): Das Land, in dem ich war. Zur Konstruktion von Kindheit in Texten junger ostdeutscher Autoren nach 1989. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum. Bd. 9. Hrsg. Von Carsten Gansel und Nicolai Riedel. Frankfurt/m. u.a.: Peter Lang. S.199.
[4] Gansel, C. (2010): Atlantiseffekte in der Literatur? Zur Inszenierung von Erinnerung an die verschwundene DDR. S. 11.
[5] Vgl. ebd. S. 33.
[6] Vgl. ebd. S. 34.
[7] Vgl. ebd.
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