von Simon Schwartz
„Mit dem Messer der Gegenwart versucht man immer vergeblich, die Vergangenheit anzuschneiden. Die Vergangenheit ist unverwundbar.Man kann dabei nur die Gegenwart oder Zukunft zum Bluten bringen.“
Dieses Zitat (S. 6) von Gregor Brand ist dem Graphic Novel vorangestellt und folgt direkt auf die Widmung an die Eltern des Autors auf der vorherigen Seite (S. 5). Auf der nächsten Seite sieht man den Todesstreifen der Mauer (S. 7), mit einem kleinen Wachturm, Flutlicht und Stacheldrahtzaun. Im Hintergrund ist eine Häuserfront Ostberlins zu erkennen.
Das Graphic Novel drüben!, von Simon Schwartz geschrieben und durch den avant-Verlag erschienen, ist ein Graphic Novel, welches in schwarz-weiß illustriert ist und das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland in den 1980er Jahren thematisiert. Das Graphic Novel beruht auf Simon Schwartz´ Leben; 1982 ist Schwartz in Erfurt geboren, lebte für 18 Monate in der ehemaligen DDR, ehe seine Eltern in die BRD durch einen Ausreiseantrag emigrierten.
Bevor ich inhaltlich fortfahre, kommt die Vorwarnung, dass die Leser*innen dieser Rezension von Spoilern nicht verschont bleiben werden.
In dem Graphic Novel erscheinen neben dem kleinen Simon noch seine Eltern und die Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits. Auch die Freunde der Eltern treten häufiger auf, die Studienkollegen sind systemkritisch und wollen ausreisen.
Die Großeltern mütterlicherseits sind liberal und offen, wohingegen die Großeltern väterlicherseits systemtreue DDR-Bürger sind. Simons Eltern, deren Namen nicht erwähnt werden, haben anfänglich die Haltung ihrer Eltern. Die Mutter ist eher kritisch gegenüber der DDR, glaubt nicht an den „Sieg des Sozialismus“ und ist aktiv in der Kirche, etwas Untypisches für die DDR. Sie arbeitet auch als Restauratorin in der Kirche.
Der Vater ist in der „Partei“ (SED). Doch nach und nach bemerkt der Vater die Schattenseiten der DDR. Auch wenn er es zunächst nicht wahrhaben möchte und meint, dass es nicht so schlimm ist, bzw. er ein Leben trotz der Repressionen in der DDR gut möglich ist (S. 66/67), kommt die Einsicht.
Simons Vater ist Hochschullehrer und soll eine Vorlesung über „gerechten und ungerechten Krieg“ halten. Wie paradox die Ausdrucksweise „gerechter Krieg“ ist, wird ebenfalls im Buch thematisiert. Das Thema der Vorlesung bringt auch den Vater erneut stark ins Zweifeln. Als der Vater von einem hochrangigen Parteimitglied den vorgefertigten Text bekommt und nicht seine eigene Vorlesung halten darf, ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, geflossen (S. 71). Die Familie stellt einen Ausreiseantrag.
Simon Schwartz hat das ganze Graphic Novel selbst gestaltet, das umfasst den Text, das Cover und das Layout. Verfasst ist er in der Ich-Perspektive, das gibt dem Text meiner Meinung nach noch eine emotionale Schärfe, die anders nicht zu spüren wäre. Gemeint sind damit die Gefühle, die der kleine Simon durchlebt, bspw. als er seine Mutter fragt, weshalb er niemals von „Oma und Opa“ aus dem Kindergarten abgeholt wird, wie es bei seinen Freunden vorkommt. Oder die Frage, ebenfalls an seine Mutter, warum er nur eine Oma und nur einen Opa hat, obwohl er weiß, dass seine vier leiblichen Großeltern noch leben (S. 37).
Stilistisch abgerundet wird das durch die Zeitsprünge; der Großteil des Graphic Novels ist im Präsens in der Zeit aus Simons Kindheit verfasst, jedoch erzählt Simon auch aus der Erinnerung als reflektierter Erwachsener aus der Jugend seiner Eltern (bspw.: S. 13-21, was die Handlung nachvollziehbarer und vor allem spürbarer macht.
Das Cover und die Rückseite sind bunt, der Text ist „nur“ schwarz-weiß, die Farbe fehlte mir nur auf den ersten paar Seiten. Danach fand ich das farblose Layout als sehr treffend, da es den Kontrast zwischen Ost und West verdeutlicht und die schwierige Zeit in der ehemaligen DDR wiederspiegelt.
Auch die Zeichnungen gefallen mir gut, sie sind kräftig, anschaulich und detailgetreu. Auffallend finde ich, dass direkt auf dem Cover das Symbol der Antifa zu sehen ist (Mauer), ebenso ein Antifa-Anstecker an der Jacke des zweiten Mannes, den die ausgereiste Familie in Westberlin sieht (S. 10). Auf der Mauer ist außerdem „Love > Hate“ zu lesen, die Abkürzung „THC“ die zu den Cannabinoiden als Tetrahydrocannabinol gehört und Köpfe und Gesichter, die zu den Mustern von psychedelischen Drogen gehören. Unten rechts steht auf der Mauer „RAUCH-HAUS MUSS BLEIBEN!“.
Ich finde es beeindruckend, inwiefern die Ängste und Sorgen spürbar gemacht werden. Bswp. der Ausreiseantrag, der von Simons Eltern gestellt wurde, war nicht ungefährlich. Wer diesen Antrag gestellt hat, musste mit Repressalien zu rechnen, genau wie es der Familie von Simon wiederfahren ist. Der Gesichtsausdruck der Eltern beim Ausfüllen des Antrags (S. 74) lässt erahnen, wie heikel diese Angelegenheit gewesen sein muss. In der Folge kommt es zu Scheinverhören, Einbruch, und Verlust der Arbeitsstelle. Außerdem wird der Vater aus der Partei geworfen.
Ein richtiger Spannungsbogen ist für mich persönlich nicht entstanden, weil von Anfang an deutlich ist, dass die Familie Schwartz „mehr oder weniger“ legal aus der DDR ausgereist ist, was allerdings nicht bedeuten soll, dass es nicht spannend zu lesen war. Die Graphic Novel hat sich schnell und mit Leichtigkeit lesen lassen und bietet sich gerade für „lesefaule“ Menschen an. Ebenso ist „drüben!“ besonders gut für Menschen geeignet, die einen realistischen Einblick in das Leben einer DDR Familie erhaschen wollen. Da ich (1997 geboren) selbst die DDR zum Glück nicht aktiv miterleben musste, aber dennoch sehr gut informiert bin auf Grund meiner Ostverwandschaft, kann ich die Schilderungen aus der Graphic Novel (aus zweiter Hand) verifizieren.
Insbesondere die Charakterentwicklung des Vaters gefällt mir sehr gut; der Vater wird in einer sozialistische Muster-Familie hineingeboren, ist engagiertes FDJ-Mitglied und voll und ganz vom sozialistischen Führerprinzip überzeugt. Doch mehr und mehr kommen berechtige Zweifel an der Diktatur und den propagandistischen Worthülsen in Verbindung mit der widersprüchlichen Realität zum Vorschein. Die Gewissensbisse, mit denen der Vater zu kämpfen hat, wurden nochmal deutlich, als seinen Eltern von der Flucht erzählt hat, die ihn direkt verstoßen haben (S. 77).
Sowohl das Thema des Buchs, als auch die Story und die Umsetzung gefallen mir sehr gut, das einzig Negative an dieser Graphic Novel ist für mich persönlich, dass die drei Jahre zwischen Ausreiseantrag und Ausreise etwas zu sprunghaft dargestellt werden.
Insgesamt ist das Werk voll und ganz gelungen, gerade weil es sich sehr schnell lesen lässt, (ich schätze, dass schnelle Leser die Graphic Novel in ca. 35-40 Minuten durchgelesen haben) und die historische Genauigkeit bemerkenswert ist, ist die familiennahe Erzählung sehr zu empfehlen.
(tr)
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